Kunst und Wissenschaft
Nana Petzet vor einer Versuchskammer zur künstlichen Alterung von Gemälden; aus "Modellversuch Rot" 1992.
Nana Petzet während dem Vortrag "Reversion" am Centre d'Art Contemporain, Fribourg, 23.6. 1992
Grundideen meiner Arbeit am Beispiel von sechs Projekten
Im folgenden versuche ich, meine wichtigsten Arbeiten nicht nur zu beschreiben, sondern auf Grundmotive, Methoden und Zielsetzungen hin zu untersuchen. Und angesichts der begrenzten Zeit beschränke ich mich auf die Entwicklungslinie der Arbeiten mit wissenschaftlich-technischen Themen seit meiner ersten Performance "Rational Scientific Art", am 4.Februar1987 in der Aula der Münchner Akademie der bildenden Künste. Ich berichte also über einen Zeitraum von 12 Jahren, und fasse die sechs zum Teil parallel entstandenen und sich über mehrere Jahre hinziehenden Kunstprojekte unter drei thematischen Kriterien zusammen: theoretische Physik, wissenschaftliches Experiment, technische Anwendung.
"Rational Scientific Art" war zunächst einmal ein Manifest: Ich erklärte programmatisch die Naturwissenschaft zur Kunst und rief die Kunstrichtung "Rational Scientific Art" ins Leben. Vom Stand meiner damaligen Möglichkeiten als Kunststudentin aus betrachtet war dies durchaus ein Akt der Selbstüberholung. Vom damaligen Stand der allgemeinen Kunstentwicklung aus betrachtet aber kam ich jedenfalls mit der von mir erfundenen Kunstrichtung entweder 25 Jahre zu spät oder 5 Jahre zu früh und blieb zunächst die einzige Vertreterin dieser "Bewegung". Auch daß Künstler pseudowissenschaftliche Vorträge halten war 1987 durchaus unüblich, weshalb ich zur Performance und nicht zum Vortrag einlud und die "Performance" mit einer Reihe von 14 Leinwandgemälden garnierte, vergrößerte Notitzzettel mit physikalischen Formeln, das heißt mit einem Anklang an mathematisch interessierte Kunst der 60iger Jahre (Rune Miels, Bernard Venet, Onkawara). Nach einleitenden Sätzen, in denen ich die Einheit von Kunst und Wissenschaft beschwor, hielt ich einen Vortrag über den Physiker Prof. Dr. Roland Zoschka und dessen revolutionäre, quantenmechanische Deutung des Gravitationsphänomens. Dieser berühmte Professor aber war, für ein Kunstpublikum nicht unbedingt ersichtlich, frei erfunden und seine Theorie war die Jugendträumerei eines meiner Freunde, inzwischen zu einem ganz gewöhnlichen Normalwissenschaftler herangewachsen. Für zusätzliche Irritation sorgten fachbezogene Zwischenfragen aus dem Publikum, die ebenfalls inszeniert waren. Da die vorgetragene Gravitationstheorie ausschließlich aus physikalischen Formeln bestand - die Massenanziehung wurde durch Wechselwirkungen der kleinsten Teilchen der Materie, der Quarks, erklärt -, war sie für das Publikum vollkommen unverständlich. Ich stellte also im allgemeinen Teil affirmativ die Vereinigung von Kunst und Naturwissenschaft als wünschenswertes und erreichbares Ziel dar. Tatsächlich habe ich die Kunst jedoch als Sockel benutzt um die dillettantische Spekulation eines Normalwissenschaftlers als die Nobelpreisarbeit eines Genies darzustellen. Gleichzeitig benutzte ich die mathematische Dimension physikalischer Theorie, um die Sprachbarriere, vor der jeder Laie kapitulieren muß, erfahrbar zu machen.
Warum Physik
An der Physik reizte mich die spekulative Kraft, die selbst unvorstellbarste Theorien wie "Schwarze Löcher" oder Antimaterie entwerfen, sie tatsächlich messen, oft sogar technisch nutzbar machen kann. Wenn ich im Zusammenhang mit meinem Manifest "Rational Scientific Art" von einem Akt der Selbstüberholung sprach, dann bot eines der folgenden Projekte - "Reversion als Realisation negentropischer Prozesse im makroskopischen Bereich"- die Gelegenheit, mich nachträglich intensiv in die physikalische Materie einzuarbeiten. "Reversion als Realisation negentropischer Prozesse im makroskopischen Bereich" bezieht sich auf die Tatsache, daß die Zeit ausschließlich in einer Richtung verläuft und sich nicht umkehren läßt.
Bei der Lektüre physikalischer Literatur fiel mir auf, daß im Gegensatz zu dieser umfassend gültigen Erfahrung sowohl in der klassischen Physik (Newton´sche Mechanik) wie in der modernen Teilchenphysik von der grundsätzlichen Umkehrbarkeit physikalischer Prozesse ausgegangen wird. Ich bemühte nun erneut den im Gründungsvortrag der "Rational Scientific Art" erfundenen Prof. Zoschka und ließ ihn eine Versuchsreihe durchführen, mit dem Ziel, die Umkehrung eines bisher mit absoluter Sicherheit für unumkehrbar gehaltenen, makroskopischen Vorgangs zu erreichen: Ein durch Schallwellen zerstörtes Trinkglas sollte, in einem von Zoschka als "Reversion" bezeichneten Vorgang wieder in seinen ursprünglichen, unzerstörten Zustand überführt werden.
Hier hatte ich im Zusammenhang mit dem Ausstellungsprojekt "Nos Sciences Naturelles" das Glück, mit dem Atomphysiker Prof. Dr. Jean Claude Dousse von der Universität Fribourg in Kontakt zu kommen, der mir half, das unmögliche Experiment möglichst realistisch darzustellen. Die Universität Fribourg stellte mir einen Versuchsaufbau "Resonanz am Weinglas" zur Verfügung, so daß ich in meinem Vortrag vom 23. Juni 1992 den Zerstörungsvorgang vorführen konnte, dessen Umkehrung im Zoschka`schen Glasversuch angestrebt wird. Negentropie, von mir und meinen Physikerinformanten uminterpretiert, wird normalerweise auf Daten und nicht auf Gegenstände angewandt. Zoschka führt dem System die verlorengegangene Energie und Information wieder zu. Der besondere Trick ist jedoch die statistische (thermodynamische) Definition von Entropie was soviel bedeutet wie Zunahme der Unordnung. Bei einer statistischen Beschreibung der Wirklichkeit läßt sich auch der unwahrscheinlichste Fall (Reversion) nicht ausschließen, - Zoschka muß nur genügend (zehn hoch 14) Versuche machen. In meiner Arbeit "Reversion als Realisation negentropischer Prozesse im makroskopischen Bereich" habe ich die Wunschvorstellung der Zeitumkehr als realisierbar dargestellt und dafür physikalische Theorien benutzt. Anders ausgedrückt, ich habe physikalische Zeitvorstellungen ins Banale kippen lassen, indem ich sie wörtlich nahm und direkt auf die Welt der Alltagsgegenstände übertug.
Schrödingers Katze
Bei den Recherchen zum Thema "Zeitumkehr" stieß ich auf das berühmte Paradoxon des österreichischen Physikers Erwin Schrödinge, - Schrödingers Katze. Mit seinem Gedankenexperiment von 1935 veranschaulicht er die Kluft zwischen der Welt unserer Erfahrung und der Welt der Quantenmechanik, d.h. der Theorie der kleinsten Teile der Materie. Eine Katze wird mit einer radioaktiven Probe, deren Zerfallswahrscheinlichkeit 50% beträgt, für eine Stunde in eine Stahlkammer gesperrt. Wenn ein radioaktiver Zerfall stattfindet, wird ein Tötungsmechanismus ausgelöst. So überträgt sich die Unschärfe des Elementarprozesses auf den Zustand der Katze: Quantenmechanisch betrachtet ist die Katze im geschlossenen Kasten gleichzeitig halb tot und halb lebendig. Erst wenn der Experimentator den Kasten öffnet, entscheidet sich ihr Zustand. Ich ließ einen entsprechenden Stahlkasten bauen und machte Fotos, auf denen ein Wissenschaftler gerade den Kasten öffnet. Schrödingers Kasten zu realisieren, macht eigentlich keinen Sinn, da die Welt unserer Erfahrung sich nicht wie der Mikrokosmos der Quarks und Quanten verhält und eine Kopplung beider Welten nur gedanklich zur Verdeutlichung des Unterschieds sinnvoll erscheint. Wenn ich den Kasten trotzdem baue, weise ich auf den Umstand hin, daß auch angesichts der bis heute ungelösten Grundsatzfragen der Quantenmechanik ihre technische Verwertung hervorragend funktioniert, - und uns die gesamten neuen Technologieen des 20. Jahrhunderts von der Kernspaltung bis zur Mikroelektronik und Gentechnik beschert hat.
Der Tausendjährige Raum
Bei "Rational Scientific Art", "Reversion" und "Schrödingers Katze" ging es mir zunächst um die inhaltliche Aneignung und die Visualisierung von Themen der theoretischen Physik. Ich komme nun in einem zweiten Schritt zum Thema "wissenschaftliches Experiment": Der "Tausendjährige Raum", abgekürzt TARA, war ein solches Experiment, dem folgende Idee zu Grunde liegt: In einem Versuchswohnraum werden innerhalb eines Jahres 1000 Jahre Alterung simuliert. Ich beschreibe den TARA als wissenschaftlichen Versuch, der angeblich am Max Planck Institut durchgeführt wird. Alle Faktoren, die Veränderungen im Wohnraum hervorrufen, werden mit Hilfe von Apparaturen wie einem Klimasimulator, einer Staubmaschiene und einer künstlichen Sonne simuliert, vorallem aber durch Arbeiter, die rund um die Uhr im TARA arbeiten und die raumumschließenden Flächen weißen, tapezieren usw. Mit jedem simulierten Mieterwechsel, werden so die Spuren der mit großem technischen Aufwand um das Tausendfache beschleunigten Alterungsvorgänge vernichtet: Der "Tausendjährige Raum" sieht am Ende aus wie neu. In Ausstellungen zeigte ich Serien von Wand- und Bodenstücken, die angeblich Proben aus dem TARA waren und wissenschaftlich anmutende Informationstafeln mit beschreibendem Text, Fotos Tabellen und Diagrammen. Mein Experiment sollte einen Wesenszug der Naturwissenschaft enthüllen: Die Reduktion der höchst komplexen Wirklichkeit auf isolierte Phänomene, um sie exakt messen zu können, sie wiederholbar und rational nachvollziehbar zu machen, mit dem Ziel Grundlagen für eine gezielte Veränderung der Wirklichkeit zu schaffen. Im übrigen ermöglicht die von mir erfundene Versuchsanordnung nur scheinbar die Simulation von beschleunigten Alterungsvorgängen, ist also eine simulierte Simulation. Was meine Vorträge bzw. Informationsausstellungen realistisch erscheinen läßt, ist die Kopie eines wissenschaftlichen Sprachstils, die Visualisierung mittels Fotodokumentation, technischer Zeichnungen, statistischer Kurven, und vorallem die systematische Berücksichtigung aller Teilaspekte, die sich allerdings im Rahmen der beschleunigten Simulation gegenseitig ausschließen können, also zum Beispiel die Vorgänge Tapezieren und Vergilben. Unter diesen Vorraussetzungen aber sind von einem derartigen Experiment ohnehin keine realen Ergebnisse zu erwarten. Im "Tausendjährigen Raum" geht es also um die Schaffung einer Ersatzwirklichkeit durch die Simulation komplexer Vorgänge. Ich parodiere den Anspruch auf Wirklichkeitsnähe von Simulationsexperimenten, da in meinem Experiment durch die tausendfache Beschleunigung das Problem der Gleichzeitigkeit sich gegenseitig ausschließender bzw. störender Teilaspekte deutlich wird.
Modellversuch ROT
Der "Modellversuch ROT" bezieht sich auf "Bilder mit monochromen Farbflächen", als "Kunstwerke" ästhetische, auratische, bedeutungsgeladene Objekte, die aber in meinem Experiment unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung ihrer materiellen Substanz ausschließlich als Produkt kausaler und exakt meßbarer Zusammenhänge betrachtet werden. Dabei wählte ich auch die Farbe Rot (Nähe zu Blut und menschlicher Leiblichkeit) und nicht Weiß oder Hellgelb (auf denen Verschmutzungen bedeutend leichter zu sehen wären), weil mich die Nähe der Restauratorensprache zur Sprache der Medizin faszinierte. So sind die Bildobjekte des Modellversuchs durchaus auch Stellvertreter für menschliche Objekte, die hier gleichermaßen einer wissenschaftlich- materialistischen Betrachtungsweise unterworfen werden. Im Gegensatz zu den vorher beschriebenen Projekten ist der in einer Reihe von Ausstellungen (u.a. 1993 im Kunstraum München und in der Berliner Nationalgalerie) gezeigte "Modellversuch ROT" keineswegs fiktiv. Handelt es sich doch um eine realistische Untersuchung zum Schicksal moderner Malerei im Alltag. Angeregt durch das Buch "Restaurierung moderner Malerei" von Heinz Althöfer stellte ich im Sommer 1991 dreiundsiebzig identische Malereimodelle her. Die Entstehung der kleinformatigen, monochromen Leinwandgemälde wurde ausführlich dokumentiert. Jedes der Bilder ist streifenförmig in den drei gängigsten Maltechniken (Acryl, Öl, Eitempera) bemalt. Modell Nr.1, das Referenzexemplar, wurde unter Idealbedingungen gelagert. Die restlichen Modelle wurden nach ihrer Fertigstellung in den realen Kunstkreislauf eingeschleust und an verschiedenen Orten ausgestellt. Modell Nr.2 bis Modell Nr.31 wurden entsprechend ihrer numerischen Abfolge verkauft. Der gesamte Versuchsverlauf ist durch Fotografien, Protokolle und Messungen dokumentiert. Ich entwarf eigens Formblätter für die Schadenszeichnungen. Die neuen Besitzer der Modelle haben sich sogar verpflichtet, regelmäßig Schadensprotokolle anzufertigen. Bei der Durchführung des Modellversuchs bekam ich vielfältige Unterstützung: So wurde ich von dem Hamburger Restaurator Christian Scheidemann beraten, im Münchner Dörner-Institut wurde eines der Modelle mit dem Mikroskop untersucht, Kunsttransportfirmen führten Gratistransporte durch und ein Meßgerätevertrieb überließ mir ein Datensammelgerät zur Messung von Temperatur- und Luftfeuchtigkeitsschwankungen. 1996, als ich die Bilder das letzte mal untersucht habe, war bereits ein anschauliches Schadensbild festzustellen: Die häufigsten Schäden sind Glanzstellen, Kratzer, sowie kleinflächiger Farbabrieb an den Seiten und Kanten der Bilder und in den Randbereichen der Bildfläche. Der Modellversuch ROT wurde in "Restauro", der führenden Restauratorenzeitschrift unkommentiert abgedruckt. Mit dem Modellversuch ROT habe ich also eine echte Feldstudie entwickelt, das heißt der Gegenstand wird in seiner natürlichen Umgebung untersucht. Versuchsanordnung und Verlauf sind realistisch und für die restauratorische Praxis von Interresse. Nur die begleitenden Messungen und die Dokumentation der Alterungsvorgänge blieben notgedrungen höchst unvollständig: Um den Modellversuch ROT korrekt durchzuführen, hätte ich ein kleines Institut haben müssen. Deshalb sprach ich in meinen Vorträgen und Texten zum Modellversuch ROT auch von einem nicht näher definierten "Wir"
Im Modellversuch ROT bietet Kunst, wenn sie sich ganz in den Dienst ihrer eigenen wissenschaftlichen Untersuchung stellt, die Ideale Versuchsanordnung. Normalerweise werden Versuche an Malereimodellen im Labor durchgeführt. Dummies werden Drop -Tests unterworfen geschüttelt, berieben, in Klimakammern gesteckt. Das Zusammenwirken der einzelnen Alterungsfaktoren kann jedoch nur an Originalen untersucht werden, deren materielle Zusammensetzung und Entstehungsbedingungen ebensowenig bekannt sind, wie ihr bisherige Lebensgeschichte. Nur als Künstlerin kann ich sowohl den Entstehungsprozess der Modelle und Ihr weiteres Schicksal genau verfolgen als auch die Modelle in den realen Kustkontext einschleusen. Wenn ich einmal davon absehe, daß mir die konsequente Durchführung nicht möglich war, bestand beim Modellversuch ROT durchaus die realistische Möglichkeit ein Kunstprojekt zu verwirklichen, das wissenschaftlich verwertbares Datenmaterial liefert.
Das SBF-System
Mit dem sogenannten SBF-Systems wenden wir uns schließlich noch meinem dritten Themenkomplex zu, der technischen Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Als Wirklichkeitsbereich, in dem ich das Phänomen der technischen Problemlösung künstlerisch untersuchen wollte, wählte ich die durch die Technikentwicklung der letzten Jahrzehnte immer weiter eskalierende Abfallproblematik, und hier wiederum speziell den Hausmüll. Angeregt durch Probleme und Skandale in Verbindung mit der Einführung des Dualen Systems Deutschland, begann ich vor einigen Jahren damit, den täglich in unserem Haushalt anfallenden Müll zu sammeln und entwickelte das SBF-System als Alternative zum Grünen Punkt. Das Sammeln-Bewahren-Forschen Abfallwiederverwertungssystem basiert auf dem Grundgedanken, daß die Verpackungsabfälle nicht einer aufwendigen Recyclingmaschinerie überantwortet werden sollen sondern dort gereinigt, gesammelt und verwertet werden müssen, wo sie entstehen: im privaten Haushalt. Ich entwickelte deshalb eine ganze Serie von Patenten zur Produktion von Gebrauchsgegenständen aus Hausmüll, z.B. Papierkörbe aus Plastktüten und Geschenkbändern, Fußabstreifer aus Milchtüten usw. Unser Haushalt wurde sozusagen in einen Testhaushalt verwandelt, eine Kombination aus Abfallsammelstelle, Wiederaufbereitungsanlage und Wiederverwertungsbetrieb.
Am konsequentesten ist mir das bei einem halbjährigen Aufenthalt auf Island gelungen. Ich sammelte ein sechs Monate lang sämtliche in unserem Vierpersonenhaushalt anfallenden Abfälle, die sich reinigen und ohne Geruchsbelästigung lagern lassen. Am Ende des Aufenthalts lud ich das isländische Kunstpublikum zur Besichtigung unseres Hauses ein. So konnten die umfangreiche Abfallsammlung auf dem Speicher, die vielfältigen Reparaturen und der aus dem Abfall gebastelte Hausrat in situ, d.h. in seiner natürlichen Umgebung besichtigt werden. Durch die Anhäufung des Materials war ein vielfältiges Potential entstanden, das anders als auf einer Müllhalde in der Wohnung die menschliche Relation behält. Dabei wird auch deutlich, daß ein solches Verhalten zwangsläufig zu Stauungen führen muß: das Endlager in den eigenen vier Wänden. Doch ökologisch gesehen ist der Leitsatz des SBF-Systems sicher richtig: "Es ist besser den Abfall zu behalten als ihn wegzuwerfen".
In einer Reihe von Ausstellungen u.a. in Zagreb, Graz, Marseille und Osaka,
hatte ich Gelegenheit, meine ständig wachsende Sammlung von gewaschenen und
sortierten Haushaltsabfällen und meine über 100
Wiederverwertungsmöglichkeiten und Recyclingpatente. Gleichzeitig
entwickelte ich verschiedene Textbeiträge: Darstellungen des SBF-Systems
als eine Art Bürgerbewegung oder in Form von als Bürgerinformation
getarnter Propaganda im Stil der Werbung für das Duale System Deutschland
oder ich lasse fiktive Wissenschaftler in einem Testhaushalt die Ökobilanz
des SBF-Systems erstellen. Andere perspektiven eröffnet die Beschreibung
des SBF-Systems als das persönliche Wahnsystem einer Einzelperson, die
unter dem Zwang leidet nichts wegwerfen zu können (sog. Messies). Das
inzwischen höchst umfangreiche Fotomaterial zum SBF-System ist ebens
heterogen wie die durch Schautafeln und Diagramme ergänzte Textebene und
reicht vom alltäglichen Schnappschuß über Dokumentationsfotos bis zu
gestellten Fotos mit Werbeästhetik.
Nachdem das Motto des SBF-Systems - Sammeln Bewahren Forschen - auch die Aufgaben des Museums charakterisiert, sind wir nun am Ende meiner Reise durch Teibereiche der theoretischen Physik, vorbei an den Klippen experimenteller Wirklichkeitserfassung und den Untiefen umwelttechnischer Lösungsversuche unversehens im Museum gelandet: das Museum als Ort rückwärtsgewandter kultureller Aufarbeitung der vorauseilenden Entwicklung technischer Veränderungsmöglichkeiten. Müßte ich nun abschließend eine Begründung für die hier vorgestellte Auswahl von sechs meiner Projekte liefern, die mich z.T. parallel in den vergangenen Jahren beschäftigt haben, so könnte ich vielleicht behaupten, daß es mir immer wieder darum gegangen sei, einen Zustand zu überwinden, den man heute gelegentlich als "cultural lag" bezeichnet, ein Zurückbleiben, oder Hinterherhinken, der Kultur hinter der rasanten Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Industrie. Wenn ich aber wissenschaftliche Verfahrensweisen wie Theoriebildung oder Experiment ironisch künstlerisch nachvollziehe, sie von den Sachzwängen löse und in den Freiraum der Kunst hineinnehme, ergeben sich neue Perspektiven für die Betrachtung und Bewältigung von Wissenschaft und Technik. Und das gilt ebenso für den gelegentlich leicht parodistischen Umgang mit einem an sich sehr ernsten Thema wie der Abfallentsorgung.
© Nana Petzez und multi.trudi 2001